Der Saurier

Als er erwachte, war der Saurier noch da. Zwischen den Zweigen und Blättern des Feigenbaumes hindurch starrte Tom dem Tier direkt in eines seiner Augen – klein und golden. Er lag auf dem Boden und unter seinen Fingerspitzen fühlte er Erde. Tom konnte sie riechen: feucht und schwer, irgendwie nach Torf. Es war drückend warm und dennoch fror er.

Langsam schlichen sich Erinnerungsfetzen in sein Gedächtnis. Wo waren die Kinder? Sein Blick glitt über die schuppige Haut des Sauriers. Das Braun hatte sich rot verfärbt, das Tier war mit Blut bedeckt.

Mit dieser Erkenntnis setzte der Schmerz ein, raubte ihm fast den Atem. Er war verletzt. Das Blut am Saurier war seines! Tom verkniff sich die aufsteigenden Tränen. 

Irgendwo mussten die Kinder sein! Er strengte sich an, inmitten dieses Irrsinns etwas von ihnen zu hören.

In der Luft hing ein Zirpen. Die Geräusche unzähliger Insekten wurden durch tiefe Vogelrufe und das regelrecht herausgebrüllte Keckern von Fröschen unterbrochen. Wer war nur darauf gekommen, dass Frösche quakten? Ihre Rufe schienen ihn regelrecht zu verhöhnen.

Trotz der Übelkeit, die ihn übermannte, drehte Tom den Kopf. Er betrachtete seinen blutenden Fuß. Vorsichtig bewegte er sein Bein, stöhnte, als er mitansehen musste, wie auch der Saurier jeder Bewegung folgte. 

Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen. „Nicht bewegen. Dann wird alles gut“, sprach er sich Mut zu.

Tom versuchte, das Gewirr der Farnwedel zu durchdringen. Sein Sohn und dessen Freund waren nirgendwo zu sehen! Stattdessen erkannte er klein und weit fort eine Herde von Ankylosaurus, die zusammen grasten. Von seiner Position sahen sie wie Schildkröten aus, mit stacheligen Panzern und keulenbeschwerten Schwänzen, mit denen sie alles zerschmettern konnten. Tom schloss die Augen. Warum war er ausgerechnet an den Draco Rex geraten? Eine Träne rann ihm aus dem Augenwinkel. 

Dabei hatte dieser Saurier so harmlos gewirkt. Draco Rex, der Drachenkönig ohne Flügel. Tom hatte sich über den Pflanzenfresser belustigt. Wirklich gefährlich waren für ihn die Jäger gewesen, die Fleischfresser: der Tyrannosaurus Rex! Den Draco hatte er unterschätzt.

Aus der Ferne vernahm Tom Getrappel, die aufgeregten Stimmen der Kinder. Entsetzt blickte er zurück zum Saurier und ahnte: Obwohl Hilfe nahte, war er dem Untergang geweiht. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, sein Atem beschleunigte sich. Mit aller Kraft und gegen den Schmerz, der seinen Fuß – sein Bein – zu zerreißen drohte, richtete er sich zum Sitzen auf. So durfte man ihn nicht finden! Die Erde unter ihm geriet ins Rutschen, der Saurier verschwand aus seinem Blickfeld und dann riss ihn die Übelkeit in einen dunklen Strudel zurück.

Als Tom erneut die Augen öffnete, war der Saurier noch immer da. Die kleine Figur starrte von einem Krankenhaustischchen aus ihren winzigen goldenen Augen zu ihm herab. Daneben tauchten zwei weitere Augenpaare auf, eines davon reptilienartig zusammengezogen, gelbbraune Ringe um eine grüne Iris. Und mit diesen Augen war auch die Erinnerung wieder da:

„Du wirst nicht mit ihnen toben!“ Tabea tippte an die Kühlschranktür, hinter der das Abendessen für ihn, seinen Sohn und dessen Freund zu finden sein sollte. „Du wirst kein Chaos veranstalten!“

Tom war ihr in Gedanken weit voraus. Was Tabea nur wollte! Sie hatte ihn eindringlich angesehen und er hatte genickt. Sie würde gar nichts merken von ihrem kleinen Abenteuer. Was sollte schon passieren? Tom hatte einen kurzen Blick hinaus in den Garten geworfen, der im Regen fortzuschwimmen drohte. Er hatte dieses Wetter nicht bestellt, das ihn mit den Jungen an das Haus fesselte!

Dann war Tabea gegangen. Und er hatte den Kamin angeheizt. Zusammen mit der Fußbodenheizung würde er das richtige Klima schaffen. Unter Jubel hatten die beiden Jungen geholfen, die Pflanzen im Haus zusammenzutragen und im Wintergarten zusammenzuschieben.  Es musste ein richtiger Dschungel werden.

Tom hatte eine von Tabeas Entspannungs-CDs in den CD-Player eingelegt. Dem Rauschen der Wellen folgte das Zirpen von Grillen und ging in geheimnisvolles Rufen von Dschungelgetier über. Die Geräuschkulisse entführte sie in eine vollkommen andere Welt. 

Die Jungen hatten ihre Sammlung an Sauriern auf den Boden gekippt und Tom hatte aufmerksam zugehört, als sie ihm jeden einzelnen erklärten: Größe und Gewicht, was sie fraßen und wie gefährlich sie gewesen sein mussten. 

Es hatte sich von ganz alleine ergeben. Tom hatte ihnen vorgeführt, wie ein Tyrannosaurus Rex sich bewegte, wie er lauerte und jagte. Und aus den aufgeregt kichernden Jungen waren erstaunlich gerissene Gegner geworden: Veloci-Raptoren, die im Rudel unglaublich schnell jagten und alles mit ihren sichelartigen Krallen und Zähnen reißen konnten. Sie hatten es gewagt, es mit ihm, dem T-Rex, aufzunehmen. So war Tom nichts anderes übriggeblieben: Um im Dschungelkampf nicht die Kontrolle zu verlieren, war er auf einen hohen Felsen geklettert, für den der massive Eichenholztisch gerade passend war. Als ihn die zischenden und nach ihm schnappenden Raptoren einkesselten, blieb ihm nur der Sprung hinunter auf die Lichtung. Dort hatten die kleinen Spielzeugsaurier gegrast. 

Der Draco-Rex hatte sich als wehrhaft erwiesen. Bevor Tom zum Tyrannosaurus-Rex mutiert war, hatte er den Pflanzenfresser verächtlich vornüber gestupst – um ihm das Fressen zu erleichtern. Spitz ragte der geschwungene Schwanz gen Himmel. Solange, bis Tom mit nacktem Fuß auf ihm landete. 

Begeistert begleiteten die Jungen das Brüllen des Sauriers – bis eine rote Lache über die Lichtung kroch. Die Raptoren verstummten erst, als der T-Rex beim Anblick seines Blutes zu Boden sackte und dabei einige der Topfpflanzen mit sich riss. 

Jetzt versuchte Tom, sich zu orientieren. Er lag in einem Krankenhausbett, sein Bein hochgebettet und der Fuß dick bandagiert. Er spürte keine Schmerzen, gab aber ein leises Stöhnen von sich. Es konnte nicht schaden. Doch Tabeas Reptilienaugen zogen sich mitleidlos zusammen. 

Stattdessen schob sich das Augenpaar seines Sohnes näher an Tom heran. Anders als seine Mutter strahlte Benny: „Papa, das war der coolste Spielenachmittag aller Zeiten. Und Kilian lässt fragen, ob wir das nächste Mal noch andere Freunde dazu einladen dürfen!“

Kerstin Göcking-Reichenbach