Tag 1
Es war der 2. August des Jahres 1954, einen Tag nach meinem 21. Geburtstag. Ich hatte das 1. Semester meines Studiums für Innenarchitektur in Berlin erfolgreich abgeschlossen und meine ersten Semesterferien. Wie mit meinen beiden besten Freunden aus der Lehrzeit abgesprochen, wollten wir eine Woche in Eberswalde gemeinsam Urlaub machen. Quartier hatte ich genommen bei meiner lieben Oma, bei der ich schon während der Lehre wohnte. Ich wollte mit ihnen, wie in früheren Zeiten, per Fahrrad an den Großschifffahrtskanal baden fahren.
Der Großschifffahrtskanal, die Verbindung zwischen den Havelgewässern in Berlin und der Oder, liegt in der Gegend von Eberswalde, teilweise bis zu 10 Meter über dem umgebenden Gelände, so dass streckenweise ein Erddamm aufgeschüttet wurde, in dem der Kanal floss. Links und rechts des Kanals war die Dammkrone mit der anschließenden Böschung bis zur natürlichen Geländehöhe. Die Dammkrone war grasbewachsen und in der Mitte befand sich eine Radspur, die ca.30 cm breit und 10 cm tief und ausgefahren war. Wenn man also in dieser Spur mit dem Rad fuhr, gab es keine Möglichkeit zum Überholen, aus der Spur kam man nicht heraus. Wir radelten also gemächlich und singend in dieser Spur und freuten uns über das schöne Wetter, dass wir Urlaub bzw. Ferien hatten und auf das bevorstehende Baden. Was wir aber nicht wussten, war, dass wir nicht mehr zu dritt waren, sondern zu viert. In dieser engen Fahrspur muss man sich voll auf das Fahren konzentrieren. Ein Blick nach hinten hätte immer einen Sturz bedeutet. Die beiden Freunde vor mir debattierten über die Stelle, an der wir baden wollten. Ich fuhr nur hinterher. Plötzlich und unerwartet war der Erste der Meinung, die richtige Stelle gefunden zu haben. Er hielt an, der Zweite auch, dann ich und auf einmal hatte ich plötzlich ein Vorderrad zwischen den Beinen, mit der Folge. dass ich auf den Boden stürzte, ein weiteres Fahrrad auf mich und darauf ein weibliches Wesen, erkennbar daran, dass es ein Kleid trug. Da sie ja oben lag, musste sie sich notgedrungen als erste aus diesem Knäuel herauslösen. Sie griff dann nach ihrem Fahrrad, riss es heraus und sah mich dabei grimmig an, als wenn ich die Schuld hätte, dass sie mich über den Haufen gefahren hatte. Erst als sie, ihr Fahrrad schiebend, an mir vorbeilief, wobei ich noch immer auf dem Boden lag, konnte ich sie voll erfassen, allerdings nur noch von hinten, und aus meinem Mund kam der Spruch: „Die Kleine sieht von hinten aus, als wenn sie von vorne hübsch ist, da müssen wir hinterher“, was sie mit Sicherheit hörte. Da die Dammkrone völlig eben und gerade war, hatten wir sie immer im Blick. Ausreißen konnte sie sowieso nicht. Links der Kanal, rechts die Böschung und unten dichter Wald.
Wir wussten ja nicht wie lange sie schon hinter uns hergefahren war und was sie von unseren Gesprächen und Liedern alles mitbekommen hatte. Wir sangen aus den damals gängigen Schlagern wie: „Ja, ja, ja, die Mädchen sind zum Küssen da“, oder: „Wir spielen beide Mann und Frau, und tun als wären wir ein Ehepaar, dabei ist das gar nicht wahr“.
Wie sie mir später einmal erzählte, war sie auch in freudiger Stimmung, denn es war ihr erster Urlaubstag, zwei Tage nach dem Erhalt ihres Facharbeiterbriefes als Maschinenschlosser. Sie war frei, ungebunden und ein Leben voller Erwartungen lag vor ihr, also in gleicher Verfassung wie wir. Vielleicht hatte sie auch in diesem Moment Lust dieses Spiel zu spielen. Meine beiden Freunde waren zu der Zeit schon mit ihren späteren Frauen zusammen, ich hatte eine Studienfreundin, mit der es aber nicht so richtig klappen wollte, warum also nicht einen Versuch wagen!
Wir kamen zu der Stelle, wo sie sich niedergelassen hatte. Sie war so gewählt, dass wir auch dort lagern konnten. Nicht zu nah, um aufdringlich zu sein, aber auch nicht so weit entfernt, dass sie annehmen musste, wir wollten nichts mit ihr zu tun haben. Aber so, dass wir an ihr vorbeifahren mussten.
Sie hatte ihre Decke ausgebreitet und lag im Badeanzug mit dem Kopf in Richtung Weg und Wasser auf dem Bauch, den Kopf auf die Hände gestützt und zwischen den Ellenbogen ein aufgeschlagenes Buch. Alles sehr schön arrangiert. Sie tat so, als würde sie uns nicht beachten, beobachtete uns aber aus den Augenwinkeln heraus ganz genau. Da lag sie also – ein zierliches, schlankes Wesen, zart wie eine Elfe, ein Engel, der einen Tag Urlaub auf der Erde bekommen hat. Eine sehr schöne Figur, mit lockigem Haar, eher noch ein Mädchen als schon eine Frau. Eine Person, an der man als Mann nicht vorbeischauen konnte. Wir betrachteten sie ungeniert, was sie mit Sicherheit zur Kenntnis nahm, sich aber nichts anmerken ließ. Was uns auffiel war, dass sie nie eine Seite in ihrem Buch umblätterte. Sie las also nicht, war mit Sicherheit auch mit uns beschäftigt, aber mit wem von uns? Beide Freunde von mir waren einen halben Kopf größer als ich. Wilhelm, ebenfalls Tischler wie ich, aber sehr maskulin und kräftig. Horst eher etwas feminin und sehr schlank, war wie auch sie Maschinenschlosser. Ich rechnete mir da wenig Chancen aus, wobei unter uns klar war, sie sollte, wenn es zu einer Annäherung käme meine Liebste werden. Wir fanden einfach keinen Grund eine Annäherung zu starten. Wir waren zu befangen und sie zu schön, um sie einfach so anzusprechen. Aber wie es der Zufall so will. entdeckten wir, dass an ihrem Fahrrad, das zwischen uns lag, ein Pedal verbogen war. Wir gingen zu ihr, machten sie darauf aufmerksam und boten die Hilfe eines Schlossers an, um den Schaden zu beseitigen. Sie beobachtete, wie wir uns bemühten, ohne die passenden Werkzeuge das Pedal wieder zu richten.
Während meine Freunde sich mit dem Pedal beschäftigten und ich lediglich die Aufgabe hatte, das Fahrrad in der jeweiligen Stellung zu halten, trafen sich auf einmal ihre und meine Blicke. Ihre Augen waren klar und strahlten mich an. In ihrem Blick lag eine gewisse Keckheit, ein bisschen wie ich mag dich, aber auch schelmisch. Dann war da noch etwas unklares, Verschmitztes, fast wie Siegesfreude! Ein Blick der jeden Mann entwaffnete und zur Kapitulation zwang. In dem Moment war mir klar, es geht ihr um mich. Mir schoss das Blut in den Kopf. Da erkannte ich blitzartig, das war ein Lächeln der Freude, der Freude über einen Sieg, den sie gerade errungen hatte. Dieses kleine schüchtern und zurückhaltend wirkende Mädchen hatte uns reingelegt, eine Falle gestellt, in der sie selbst der Köder war und in die wir prompt reingefallen sind. Sie hatte alles sorgfältig arrangiert. Den Platz auf dem wir alle vier lagern konnten, ihr Fahrrad so platziert, dass wir das verbogene Pedal sehen mussten und dass wir auf jeden Fall zu ihr kommen würden, auch um ihr Hilfe anzubieten. Später erzählte sie mir dann einmal, dass das Pedal schon über 2 Jahre verbogen gewesen sei.
Diese Hinterhältigkeit musste natürlich strengstens bestraft werden.
Das Urteil lautete „Lebenslang“ und das dauerte fast auf die Stunde genau 68 Jahre, 6 Monate und 13 Tage.